Interview: KI im Netzbetrieb ist längst Realität

Ein Gespräch mit Kai Sölter, CTO der Kraftwerk Software Holding GmbH (Artikel vom 14.03.2025 in der 50,2)
Herr Sölter, Künstliche Intelligenz (KI) wird oft mit Büroautomation, Datenanalysen oder Kundenservice assoziiert. Welche Rolle spielt sie heute im operativen Netzbetrieb?
Kai Sölter: Sie haben recht, in vielen Unternehmen wird KI hauptsächlich für administrative Zwecke genutzt, etwa zur Automatisierung von Berichten oder in der Kundenkommunikation über Chatbots. Aber wir sehen zunehmend, dass KI auch in den operativen Betrieb von Versorgungsunternehmen Einzug hält – und dort enorme Effizienzsteigerungen ermöglicht. Ein gutes Beispiel ist der KI-Assistent in unserer mobilen Anwendung für Monteure, den ein großer deutscher Netzbetreiber bereits erfolgreich einsetzt. Monteure müssen vor Ort täglich eine Vielzahl von Wartungs- und Instandhaltungsaufgaben durchführen – oft unter Zeitdruck und an dezentralen Standorten. KI kann hier nicht nur helfen, Prozesse zu beschleunigen, sondern auch Fehler reduzieren und die Sicherheit erhöhen. Besonders spannend ist der Einsatz von KI zur Unterstützung von Servicetechnikern, die mit komplexen technischen Dokumentationen arbeiten müssen.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, wie KI den Monteuren im Alltag hilft?
Kai Sölter: Eine der zentralen Herausforderungen im operativen Netzbetrieb ist die zunehmende Zahl an externen Dienstleistern, die technische Aufgaben übernehmen. Diese Mitarbeiter verfügen zwar über das notwendige Fachwissen, sprechen aber oft nicht perfekt Deutsch. Das wird schnell zum Problem, wenn es um Arbeiten an der Netzinfrastruktur oder größeren Anlagen geht. Hier gibt es detaillierte Vorschriften zur Installation, Wartung und Dokumentation, die zwingend einzuhalten sind. Die Vorgaben kommen von den Fachverbänden, Herstellern oder aus der Regulierung.
Unsere KI hilft, den Umfang an Dokumenten zu beherrschen und mögliche sprachliche Barrieren zu überwinden. Alle relevanten technischen Dokumente wurden in ein sogenanntes Large-Language-Model (LLM) integriert. Die KI übersetzt diese Dokumente in eine Art Metasprache und stellt sie anschließend mehrsprachig zur Verfügung. Ein Monteur kann also eine Frage in Deutsch oder einer anderen Sprache stellen – sei es Polnisch, Rumänisch oder Portugiesisch – und erhält eine präzise Antwort in seiner bevorzugten Sprache. Diese Antworten enthalten zusätzlich direkte Verweise auf die Originaldokumente. Das reduziert Missverständnisse und stellt sicher, dass Arbeiten nach den vorgeschriebenen Standards durchgeführt werden.
Ist für diese Anwendung immer eine Online-Verbindung erforderlich?
Kai Sölter: Nicht zwangsläufig. Das hängt von der Ausstattung der mobilen Endgeräte ab. Ältere Geräte benötigen eine Online-Verbindung, um die KI-gestützten Übersetzungen abzurufen. Neuere Geräte hingegen, die über KI-fähige Chips und ausreichend Speicher verfügen, können die Informationen auch offline speichern und verarbeiten. Das ist insbesondere in abgelegenen Einsatzorten – zum Beispiel in Kellerräumen oder in ländlichen Gebieten mit schlechter Netzabdeckung – von großem Vorteil.
KI wird oft mit Bild- und Mustererkennung in Verbindung gebracht. Gibt es hier relevante Anwendungsfälle für Netzbetreiber?
Kai Sölter: Ja, und zwar einige. Ein wichtiger Einsatzbereich ist die automatisierte Erfassung und Verarbeitung von Bilddaten. Beispielsweise kann unsere KI Seriennummern, Zählerstände oder andere technische Informationen direkt aus Fotos oder Videos extrahieren. Das spart den Monteuren Zeit, da sie Daten nicht mehr manuell eingeben müssen. Ein weiteres Beispiel ist die visuelle Inspektion von Anlagen. Unsere KI kann darauf trainiert werden, spezifische Muster und Abweichungen zu erkennen – etwa Schäden an Fundamenten von Schaltanlagen oder Trafostationen. In Zukunft könnten solche Systeme auch zur automatisierten Kontrolle von Straßenlaternen eingesetzt werden, um defekte Wartungsklappen oder Rostbildung frühzeitig zu identifizieren.
Wie aufwendig ist es, eine KI für solche Aufgaben zu trainieren?
Kai Sölter: Der Trainingsaufwand ist hoch, denn eine KI kann nur so gut sein wie die Daten, mit denen sie gefüttert wird. Um sie auf bestimmte Aufgaben vorzubereiten, müssen wir sie mit einer großen Anzahl an Bildern und Daten konfrontieren und ihr beibringen, was richtig und was falsch ist. Das hilft der KI, neue Zusammenhänge zu erkennen und fundierte Entscheidungen zu treffen. Beim Training des Sprachmodells haben wir einen sogenannten „Vector Store“ genutzt. Das ist ein hochdimensionaler Datenraum, in dem verwandte Begriffe miteinander verknüpft werden. Sie können sich das vorstellen wie eine Detektivwand in einem Krimi, auf der zusammenhängende Hinweise mit Fäden verbunden sind. Wenn wir also Begriffe wie „KVS“, „Abgang“, „Sicherung“, „Lasttrennschalter“ oder „Klemmleiste“ miteinander in Beziehung setzen, bildet sich nach und nach ein komplexes Netzwerk aus Bedeutungszusammenhängen. Dieses mehrdimensionale Geflecht von Begriffen und ihren Beziehungen untereinander bildet dann die Grundlage für die Arbeit der KI.
Kann KI auf dieser Grundlage nicht nur den operativen Betrieb verbessern, sondern auch langfristig strategische Entscheidungen unterstützen?
Kai Sölter: Absolut. Einer der spannendsten Aspekte ist, dass wir mit KI nicht nur aktuelle Daten erfassen, sondern diese auch für die langfristige Planung nutzen können. Außendienstmitarbeiter, die mit KI-gestützten Systemen arbeiten, erfassen nicht nur aktuelle Schäden, sondern auch wertvolle Bestandsdaten. Das ist die Basis für strategische Entscheidungen von Netz- und Anlagenbetreibern. Nehmen wir als Beispiel einen Kabelverteilerschrank oder eine Trafostation: Mit KI lassen sich sämtliche relevanten Informationen wie Hersteller, Baujahr oder Typ der Bauteile erfassen und auswerten. Diese Daten können dann direkt in das Lifecycle-Costing-System (LCC) der Kraftwerk-Software-Tochter Signion integriert werden. Dort analysieren wir Korrelationen zwischen Hersteller, Bauart und Störanfälligkeit, um Lebenszyklusanalysen anzufertigen. Das bedeutet konkret: Wenn wir feststellen, dass ein bestimmter Hersteller oder ein bestimmtes Baujahr besonders häufig von Störungen betroffen ist, können wir frühzeitig Maßnahmen ergreifen. Damit schaffen wir eine direkte Verbindung zwischen operativem Netzbetrieb und strategischem Asset Management – ein echter Mehrwert für Netzbetreiber. So können Versorger Ersatzinvestitionen optimieren und zugleich die Versorgungssicherheit erhöhen.
Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Kunden uns Sie nicht von einem einzigen KI-Anbieter abhängig werden?
Kai Sölter: Das war uns von Anfang an wichtig. Unsere KI-Anwendungen sind als offene Lösungen konzipiert. Wir haben einen eigenen KI-Store entwickelt, in dem Drittanbieter ihre Modelle und Anwendungen zur Verfügung stellen können. Das bedeutet, dass Netzbetreiber flexibel bleiben und ihre bestehenden Systeme nach Bedarf erweitern können. Durch diese offene Architektur können wir in Zukunft neue Workflows und Anwendungen integrieren, ohne alles selbst entwickeln zu müssen. Das macht die Technologie nicht nur für große Netzbetreiber interessant, sondern auch für kleinere Stadtwerke. Und nicht nur im Stromsektor – ähnliche KI-Lösungen können auch für andere Infrastrukturen genutzt werden, etwa für Wasser- und Gasnetze oder Wärmeanlagen.